Frauenpolitik im Koalitionsvertrag
Intensive und herausfordernde Verhandlungswochen liegen hinter uns. Wir freuen uns, dass der Koalitionsvertrag abgeschlossen werden konnte und wir nun mit Euch und Ihnen die Vereinbarungen, die wir im frauen- und gleichstellungspolitischen Teil verhandelt haben, teilen können. Zuvor möchten wir uns aber bei Ihnen und Euch für die Unterstützung, Expertise und Anregungen bedanken, die uns auf verschiedenste Weise erreicht haben – es war und ist uns immer ein Anliegen, mit der Zivilgesellschaft, Verbänden und Expert*innen in enger Abstimmung zusammen zu arbeiten und wir wollen daran anknüpfen und gemeinsam die nächsten vier Jahre Gleichstellungspolitik in diesem Sinne gestalten.
Im Bereich der strukturellen Gleichstellungspolitik haben wir erreichen können, dass zukünftig alle politischen Entscheidungen und Gesetze durch einen Gleichstellungs-Check auf ihre geschlechtsspezifischen Auswirkungen hin überprüft werden müssen. Dass es in diesem Bereich dringenden Handlungsbedarf gibt, hat sich in den vergangenen Monaten der Pandemie gezeigt. Darüber hinaus werden wir das Gender Budgeting weiterentwickeln und gezielt einsetzen sowie den Gender Data Gap schließen. Dies wird getragen von einer ressortübergreifenden Gleichstellungsstrategie, die uns dem Ziel, eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern zu erreichen, deutlich näher bringen und die Gleichstellungspolitik krisenfest und zukunftssicher machen soll.
Unsere Idee von einer wirksamen, intersektionalen Gleichstellungspolitik wird getragen von dem Grundverständnis, dass Gleichstellung nur dann gelingen kann, wenn das Selbstbestimmungsrecht jeder einzelnen Person respektiert wird, geschlechtsspezifische Diskriminierungen und Gewalt gegenüber Frauen gezielt verhindert und als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen werden. Daher war es für uns Bedingung, einen Großteil unserer Kernforderungen einzubringen und ein deutlich progressives, frauenpolitisches Zeichen setzen zu können.
Dazu zählte vor allem die Verpflichtung, die Istanbul-Konvention vorbehaltlos umzusetzen und endlich eine Lösung für die Frage der Frauenhausfinanzierung zu finden. Wir sind daher mehr als zufrieden, dass es nach über 30 Jahren erstmals einen bundeseinheitlichen Rechtsrahmen für eine verlässliche Finanzierung geben wird, an der sich auch der Bund regelhaft beteiligt. Wir sind überzeugt, hier den entscheidenden Schritt vorangekommen zu sein und eine gute gesetzliche Regelung entwickeln zu können. Für uns war es zudem wichtig, geschlechtsspezifische Gewalt und Taten, die aus Frauenhass begangen werden, an ihren Ursachen zu bekämpfen und einen Schwerpunkt auf den Ausbau der Präventionsarbeit zu legen. Ebenso sehen wir Akteur*innen an den Schnittstellen in der Pflicht, sich regelmäßig fort- und weiterzubilden, um dadurch eine höhere Sensibilisierung für den Umgang mit Betroffenen sowie ein Bewusstsein für das Vorkommen von geschlechtsspezifischer Gewalt, auch in Familien, zu erreichen. Daher soll festgestellte häusliche Gewalt zukünftig in Umgangsverfahren zwingend berücksichtigt werden müssen. Wir konnten ebenfalls erreichen, dass geschlechtsspezifische Beweggründe in den Katalog der Strafzumessung des § 46 Abs. 2 StGB explizit aufgenommen werden.
Weitere Ergebnisse unserer Verhandlungsgespräche sind der Nationale Aktionsplan zur Bekämpfung des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, die Einrichtung einer unabhängigen Monitoringstelle sowie die Verständigung auf die Ratifizierung der ILO Konvention Nr. 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und den Aufbau eines unabhängigen Zentrums für Safe Sport, um den Schutz vor physischer, psychischer und insbesondere sexualisierter Gewalt im Sport zu verbessern.
Unverzichtbar war für uns vor allem die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von ungewollt Schwangeren. In erster Linie bedeutet das für uns, Schwangerschaftsabbrüche als Teil einer notwendigen Gesundheitsversorgung anzuerkennen. Wir werden die Versorgungssicherheit von ungewollt Schwangeren sicherstellen, indem Schwangerschaftsabbrüche künftig Teil der medizinischen Aus- und Weiterbildung sind und die Kosten für einen Abbruch grundsätzlich übernommen werden sollen. Mit der Abschaffung von § 219a StGB werden wir mehr Rechtssicherheit für Ärzt*innen schaffen und die Informationsfreiheit für Frauen vergrößern. Den Zugang zu Beratung werden wir vereinfachen (bspw. durch Verstetigung der Online-Beratung). Dazu gehört auch, Schwangere vor der Einflussnahme Dritter (so genannter Gehsteigbelästigung) vor Beratungsstellen und Praxen zu schützen. Hierzu werden wir eine einheitliche Regelung erarbeiten.
Reproduktive Rechte sind für uns unabdingbarer Teil einer progressiven Gleichstellungspolitik, deshalb werden die Kosten für Verhütungsmittel für Geringverdienende künftig übernommen. Für alle anderen sollen Krankenkassen die Kosten als freiwillige Leistungen erstatten können. Darüber hinaus werden wir die Forschungsförderung für Verhütungsmittel anheben. Zudem werden wir einen Nationalen Aktionsplan „Gesund rund um die Geburt“ aufsetzen. Ungewollt Kinderlose werden wir besser unterstützen und bestehende Diskriminierungen bei künstlichen Befruchtungen beseitigen – diese werden in Zukunft unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität anteilig förderfähig sein. Darüber hinaus haben wir uns auf die Übernahme der Kosten der PID und der Zulassung von Embryonenspenden im Vorkernstadium und des „elektiven Single Embryo Transfer“ verständigt.
Das Familienrecht werden wir modernisieren. Im Abstammungsrecht sollen künftig alle in eine Ehe hineingeborenen Kinder rechtlich der Person zugeordnet werden, die mit der Mutter verheiratet ist. Wir ermöglichen auch die rechtliche Elternschaft und eine Elternschaftsanerkennung unabhängig von der Ehe. Wir stellen lesbische Paare mit Kindern und Regenbogenfamilien rechtlich damit endlich gleich. Im Sorge- und Umgangsrecht wird es kein gesetzliches Leitbild für ein Wechselmodell geben. Wir haben uns darauf geeinigt, Bedingungen zu schaffen, die eine kindeswohlorientierte partnerschaftliche Aufteilung der Betreuung, auch nach Trennung und Scheidung, ermöglichen und entsprechende Mehrbelastungen im Sozial- und Steuerrecht stärker zu berücksichtigen.
Für die Entscheidungen von größerer ethischer Tragweite werden wir eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin einsetzen. Hier soll eine Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen außerhalb des Strafgesetzbuches sowie Möglichkeiten der Legalisierung der Eizellspende und altruistischer Leihmutterschaft geprüft werden. Wir sind uns der Tragweite dieser Fragen bewusst und sind bereit, uns dieser Verantwortung zu stellen.
Wir werden zudem die geschlechtsbezogenen Unterschiede in der medizinischen Versorgung, in den Bereichen der Gesundheitsförderung und Prävention sowie der medizinischen Forschung stärker berücksichtigen – und die Gendermedizin als Teil der medizinischen Aus- und Weiterbildung verankern. Wir stärken die paritätische Beteiligung von Frauen in den Führungsgremien der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen sowie ihrer Spitzenverbände auf Bundesebene sowie der gesetzlichen Krankenkassen.
Einen entscheidenden ersten Schritt konnten wir auch im Bereich des Steuerrechts gehen, indem die Steuerklassen 3 und 5 in das Faktorverfahren überführt werden und dadurch insbesondere die negativen Folgen für den Bezug von Lohnersatzleistungen wegfallen. Dennoch schmerzt es, dass wir trotz intensivster Bemühungen keine grundsätzliche Einigung bei der Abschaffung des Ehegattensplittings für Neu-Ehen und der Überführung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erreichen konnten und damit wesentliche Hürden für Frauen auf dem Arbeitsmarkt weiter bestehen werden. Die Gefahr eines möglichen Missbrauchs von Minijobs sowie die bekannte Tatsache der Minijobs als sog. „Teilzeitfalle“ für Frauen haben wir identifiziert und benannt. Uns ist bewusst, im Bereich der „Ökonomischen Gleichstellung“ und bei den Fragen zur gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen und Politik hinter den Erwartungen (auch unseren eigenen) geblieben zu sein. Bis zuletzt haben wir für deutliche Veränderungen im Bereich der
Entgelttransparenz gekämpft und hätten uns deutlich konkretere Reformen gewünscht. Immerhin ist es uns gelungen, das Bekenntnis zur Weiterentwicklung des Entgelttransparenzgesetzes und die Einführung einer verbandlichen Prozessstandschaft festzuschreiben. Im Falle einer Klage sollen Verbände die Prozessführung übernehmen können und Betroffene sind nicht auf sich allein gestellt.
Gleiches gilt für Frauen in Führungspositionen und Parité. Selbstverständlich lassen wir uns nicht entmutigen. Wir werden weiterhin auf die Umsetzung von Gleichberechtigung in allen Bereichen hinarbeiten – Equal Pay, die Beseitigung von Fehlanreizen, die einer eigenständigen Existenzsicherung im Wege stehen sowie die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen stehen mit uns weiter auf der Agenda der Bundesregierung.
Nicht zuletzt deshalb, weil wir uns darauf geeinigt haben, uns auch innerhalb der EU und international für eine fortschrittliche Gleichstellungspolitik einzusetzen. Das bedeutet die Einhaltung internationaler Abkommen wie der Istanbul-Konvention oder CEDAW, aber auch die Aufgabe der Blockadehaltung gegenüber gleichstellungspolitisch relevanter EU-Richtlinien. Dass es auch in der internationalen Politik zukünftig feministischer zugehen wird, zeigt unsere Verständigung auf eine „Feminist Foreign Policy“ und einen Gender-Aktionsplan für die Entwicklungszusammenarbeit. Wir werden die Rechte, Repräsentanz und Ressourcen von Frauen und marginalisierten Gruppen stärken sowie den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“ weiterentwickeln.
Mit Blick auf die außergewöhnlichen Belastungen während der Krisenzeiten war es uns ein großes Anliegen, die Situation von Familien und Alleinerziehenden besonders zu berücksichtigen. So wird es zukünftig eine Ausweitung der Partnermonate beim Elterngeld und einen dreimonatigen Kündigungsschutz im Anschluss an die Elternzeit geben. Die Brückenteilzeit soll von mehr Menschen in Anspruch genommen werden können und mehr Zeitsouveränität für die Menschen geschaffen werden, die Angehörige oder Nahestehende pflegen. Auch die Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen für besonders Belastete und Steuergutschriften für Alleinerziehende konnten in den Vertrag aufgenommen werden. Die größten und sicher spürbarsten Erfolge stellen die Einigung auf eine Kindergrundsicherung und den Mindestlohn dar, um von Armut bedrohten Familien und Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, frei von staatlichen Transfermaßnahmen leben zu können und insbesondere die Berufe im sogenannten Niedriglohnsektor aufwerten zu können.
Beim Bürgergeld werden wir Frauen gezielt mit passenden Angeboten unterstützen und insbesondere Müttern von kleinen Kindern Angebote in Teilzeit (z. B. Teilzeitausbildungen) machen. Im Arbeitsmarktbereich, speziell im Jobcenter, wollen wir Frauen mit Migrations- und Fluchthintergrund besonders fördern und Angebote stärker mit der Sprachförderung im alltagspraktischen Zusammenhang verknüpfen.
In weiteren Bereichen konnten wir wichtige Ziele verankern, wie die Stärkung von Frauen im Handwerk, in Start-ups und mit besserem Zugang zu Wagniskapital für Gründerinnen. Hürden für Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund beim Zugang zu Finanzierungen und Förderungen bauen wir ab.
Unser Anspruch an diesen Koalitionsvertrag war es, in der Frauen- und Gleichstellungspolitik einen Unterschied zu machen und insbesondere diejenigen Menschen und Bereiche sichtbar werden zu lassen, die dringende staatliche Unterstützung oder konkrete politische Maßnahmen benötigen. Zudem haben wir sie als Querschnittspolitik verankert. Aus unserer Sicht setzt der Vertrag einen guten Rahmen, um künftig effektive und progressive, intersektionale und internationale Gleichstellungspolitik mit Leben füllen zu können – dazu hat sich die kommende Bundesregierung verpflichtet. Und wir hoffen, dass Ihr und Sie uns auch weiterhin dabei begleitet.
Mit herzlichen Grüßen
Ricarda Lang, Ulle Schauws, Aminata Touré und Gesine Agena
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